Germanische gentes wie die Franken, die Alamannen oder die Bajuwaren haben die politischen und historischen Abläufe in Europa im ersten Jahrtausend entscheidend mitgeprägt. Bis heute stiften ihre Namen und ihre Geschichte in verschiedenen europäischen Regionen und Ländern territoriale Identität. Dies gilt auch für die saxones, die Sachsen. Ihr Name findet in verschiedenen Kontexten bis heute Widerhall, so etwa wenn von der „angelsächsischen Welt“ die Rede ist.
Während die spätantike Überlieferung bis zum 5. Jahrhundert mit dem Begriff „saxones“ bzw. „Sachsen“ zunächst nur Piraten und plündernde bewaffnete Verbände aus dem Norden oder Einheiten germanischer Söldner in der römischen Armee bezeichnet, benennen fränkische Chronisten seit dem 6. und 7. Jahrhundert damit auch Bewohner der Landschaften zwischen Rhein, Elbe, Mittelgebirgen und Nordseeküste. Als direkter nördlicher Nachbarn des Frankenreiches war die Einwohnerschaft dieser Gebiete damals zunehmend in den Fokus der Hegemoniebestrebungen der fränkischen Könige geraten. Feldzüge und Strafexpeditionen der christlichen Franken gegen diese heidnischen „Sachsen“, die keinen König kannten und nicht bereit waren, geforderte Tribute zu leisten und stets alle Treueschwüre brachen, gipfelten schließlich in den von Karl dem Großen zwischen 772 und 805 am Ende siegreich geführten „Sachsenkriegen“. Der jahrzehntelange Widerstand gegen den Eroberer, die von Karl mit brachialer Gewalt erzwungene Abkehr von traditionellen nicht-christlichen Glaubensvorstellungen und die Durchsetzung der Organisationsstrukturen der fränkischen Reichsgewalt und der Kirche veränderten das gesellschaftliche Gefüge der frühmittelalterlichen Sachsen und zerstörten ihre autochthone schriftlose Kultur. Teile der europaweit gut vernetzten sächsischen Elite verstanden es, diesen ebenso tiefgreifenden wie irreversiblen Prozess zum Ausbau ihrer Macht und Herrschaftsbereiche zu nutzen. Einer der im 9. Jahrhundert führenden Familien gelang dabei ein nicht zu übertreffender Aufstieg: Die heute so genannten Liudolfinger erlangten in der Person Heinrichs I. über das Amt eines von den Franken eingesetzten Herzogs der Sachsen zu Beginn des 10. Jahrhunderts die Königswürde des Frankenreiches. Unter Heinrichs Regentschaft und der seines Sohnes und Nachfolgers Otto I. wurde der heutige Südosten Niedersachsens zu einer Kernlandschaft des nunmehr ostfränkisch-deutschen Königtums.
Ein Vielzahl archäologischer Befunde und Funde, neue sowie weiterentwickelte wissenschaftliche Methoden und ein Paradigmenwechsel in der Erforschung ethnogenetischer Prozesse im frühen Mittelalter haben das traditionelle, in vielen Aspekten von der Forschung des 19. Jahrhunderts geprägte Geschichtsbild, das von diesen Sachsen entworfen wurde, grundlegend revidiert. Den alten Vorstellungen zufolge galten die Sachsen des frühen Mittelalters, gegen die die fränkischen Könige Krieg führten, als ein alter germanischer Volksstamm, der, von den Landschaften an der unteren Elbe ausgehend, seit der römischen Kaiserzeit (1.-4. Jahrhundert) bis in das 6. und 7. Jahrhundert hinein nach und nach die nordwestdeutsche Tiefebene bis an die Mittelgebirge besiedelt oder zumindest unter seine Herrschaft gebracht hatte. Ab dem 5. Jahrhundert seien Angehörige dieses expandierenden Stammes außerdem als Eroberer und Auswanderer zusammen mit Stammesmitgliedern der Angeln maßgeblich an der folgenreichen Invasion germanischer Verbände in Britannien beteiligt gewesen.
Heute wissen wir, dass dieses Expansionsmodell falsch ist. Archäologen konnten zeigen, dass sich die Einwohnerschaft Nordwestdeutschlands im ersten Jahrtausend aus autochthonen und von der Römischen Kaiserzeit bis ins hohe Mittelalter durchweg ortsfesten Gruppen zusammengesetzt hat, die vieler Hinsicht sehr unterschiedlich geprägt waren. Erst in der Konfrontation mit dem fränkischen Reich und vor allem im überregional organisierten Widerstand gegen Karl den Großen bildete sich dann unter diesen Menschen langsam eine gemeinsame, Regionen und Gruppen übergreifende und vereinende „sächsische“ Identität heraus, die ein erstes manifestes Territorium in den Gebieten des im 9. Jahrhundert durch die fränkische Reichsgewalt etablierten Herzogtums Sachsen fand.
Schon in Texten britischer, aber auch kontinentaler Historiographen jener Zeit scheint der Beitrag dieser Bevölkerung zur Germanisierung Britanniens auf: Sie sprechen ab dem 8. Jahrhundert von den Bewohnern Englands als von „anglisaxones“ oder „Angli Saxones“ und verweisen damit augenscheinlich auf deren – wie auch immer geartete – historische Verbindung zu den Sachsen auf dem Kontinent. Diese dergestalt überlieferte Beteilung von Saxones (und von im wohl norddeutsch-dänischen Raum beheimateten Angeln) an der Ethnogenese der bis heute „angelsächsischen“ Bevölkerung der britischen Inseln stellt sich aus heutiger Perspektive als ein überaus komplexer Vorgang dar, der schon in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts eingesetzt hat und dem ein über viele Generationen beständiger, vielfältig motivierter Austausch von Waren, Menschen und Ideen zwischen den Bewohnern der nordseeküstennahen Regionen der Niederlande, Nordwestdeutschlands und Dänemarks und der damaligen Einwohnerschaft Englands zugrunde liegt – ein multifaktorieller Migrationsprozess also, der mit den Begriffen „Eroberung“ und „Auswanderung“ keinesfalls hinreichend definiert und Gegenstand aktueller wissenschaftlicher Kontroversen ist.
Text: Babette Ludowici